Wednesday 15 December 2010

Die Socken-Serie

Als sich der weithin unbekannte Schweizer Fotograf Freddie „Trigger“ Berchtold letzthin nach San Francisco aufmachte, konnte er nicht ahnen, dass er dort auf ein Projekt stossen würde, dass schon bald zu seiner fotografischen Bestimmung werden sollte: die Socken-Serie.

Trigger besuchte in San Francisco seine Freundin, die Foto-Künstlerin Edna O’Look. Eines regnerischen Morgens wanderten die Beiden durch das Richmond Quartier in Richtung Geary Street als Edna unvermutet auf einen Gegenstand deutete, der auf dem Trottoir an der Ecke 25th Ave und Geary lag, und, wie es ihre Gewohnheit war, ausrief: „Da schau mal!“ Trigger schaute nicht, denn Edna O’Look machte ihn ständig, wo auch immer sie gingen, auf vollkommen unbemerkenswerte Dinge aufmerksam. Doch dieses Mal war es nicht so einfach, sie zu ignorieren, denn sie war stehen geblieben und blockierte Triggers Weg. Forschend beäugte sie ein Stück nasser Wolle, das für Trigger wie ein liegen gelassener Socken aussah, der, wie er fand, seiner Aufmerksamkeit auch deswegen nicht würdig war, weil es regnete und er dringend pinkeln musste. Doch Edna liessen solch gewöhnliche Umstände vollkommen kalt (ihr letztes Projekt hatte ausschliesslich mit Wasser zu tun und seither liess sie sich von allem, das in flüssiger Form daher kam, nicht mehr aus der Ruhe bringen). Zudem war sie voll auf dem Bewusstseins-Trip: sich irgendetwas bewusst zu sein, schien ihr an sich total positiv. Ein offensichtliches Kompensieren, wie Trigger es sah, denn Edna schlief zehn bis zwölf Stunden pro Nacht, kein Wunder also, dass sie ausserordentliche Anstrengungen unternahm, um in der verbliebenen Tageszeit extra-wach (oder, in ihren Worten, „bewusst) zu sein.

Es ist ein Socken, sagte Trigger. Interessant nicht? antwortete Edna. Es ist nur ein Socken! sagte Trigger mit deutlich erhobener Stimme. Was soll an einem nassen Socken auf der Strasse denn interessant sein? Nun ja, ich hab ihn bemerkt, sagte Edna. Natürlich würde ich nicht so weit gehen und dem eine spezielle Bedeutung zumessen wollen, doch die Geschichte hinter dem Socken könnte wirklich ganz faszinierend sein. Trigger musst immer noch dringend pinkeln und so sagte er: Können wir das bei einem Kaffee besprechen. Sowieso, sagte Edna.

Nachdem Trigger seine Blase erfolgreich geleert hatte, sagte er: Ich kann einfach nicht glauben, dass ein nasser Socken auf der Strasse Dein Interesse findet. Siehst Du einen Socken, der nicht an seinem üblichen Platz ist, denn nicht anders als wenn er an seinem üblichen Platz ist? antwortete Edna. Was hältst Du denn für den üblichen Platz für einen Socken? An einem Fuss oder im Schrank. Das seh ich auch so, gab Trigger zurück, aber was ist der übliche Platz für einen nassen Socken? An einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Genau, antwortete Trigger, aber ich versteh es immer noch nicht, weil, na ja, also weil mir ist ein nasser Socken auf der Strasse ganz einfach vollkommen schnuppe. Nun ja, sagte Edna, es erlaubt Dir, den Socken und den Platz, wo er sich befindet, mit anderen Augen zu sehen. Wäre dieser Socken nicht gelegen, wo er lag, hättest du ihn wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Nun, sagte Trigger, ich habe ihn ja gar nicht bemerkt, obwohl er lag, wo er lag. Siehst Du, erwiderte Edna, das ist der Unterschied: Ich gehe bewusst durchs Leben und Du nicht. Und weil ich bewusst durchs Leben gehe, entwickle ich alternative Sichtweisen. Und das wiederum erlaubt mir, neue Zusammenhänge zu sehen. Und genau das fasziniert mich.

Das ganze Bewusstseins- und Aufmerksamkeits-Ding machte für Trigger nicht viel Sinn, denn ihm wäre lieber gewesen, er wäre sich der Leute, Orte und Dinge um ihn herum weniger bewusst gewesen. Im schien dieses ganze Bewusstseins- und Aufmerksamkeits-Getue völlig überbewertet. Was sollte, zum Beispiel, daran toll sein, wenn man sich seines Zahnwehs bewusst war? Oder seines Tinnitus?

Andrerseits faszinierte ihn Ednas Socken-Bewusstsein aber auch. Während der nächsten Tage erwischte er sich dabei, wie er ständig nach nassen Socken ausschaute, wo immer er auch ging. Er sah nie einen. Edna jedoch sah ständig welche. Nasse Socken? fragte Trigger. Ja, nasse Socken.

Trigger verstärkte seine Anstrengungen. Aber da, wo er ging, gab es keine nassen Socken. Doch dann, eines Morgens, sah er einen. Einen roten nassen Socken. An der Ecke Fulton und 32nd Avenue. Er war ganz aufgeregt, nahm seine Kamera zur Hand und begann zu schiessen. Aus allen Winkeln. Er strahlte vor Freude als er Edna davon erzählte. Als Kalifornierin teilte sie seine Begeisterung und freute sich für ihn.

Zwei Tage später entdeckte er einen weiteren Socken. Dieses Mal war es ein trockener schwarzer. Auf der Cabrillo. Er konnte sein Glück kaum fassen. Gleichzeitig war er leicht skeptisch, denn Cabrillo war etwas sehr nahe von Ednas und seinem Wohnort auf der 32nd Avenue. Und auch Fulton war verdächtig nahe. Hatte Edna vielleicht die Socken da hingelegt? Möglich, dachte er. Doch dann sagte er sich: Also jetzt, wo ich endlich meine Bestimmung gefunden habe, werde ich doch nicht so blöd sein und sie einfach wieder fahren lassen, nur wegen einer solchen doch recht unwahrscheinlichen Möglichkeit.

Ich vermisse zwei Socken, sagte Edna zwei Tage später. Einen roten und einen schwarzen. Hast Du sie gesehen?

Aus: Hans Durrer 
Inszenierte Wahrheiten
Rüegger Verlag, Chur/Zürich 2011

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