Wednesday 10 August 2011

Pigeon English

Harri Opoku ist elf, gerade aus Ghana angekommen und lebt mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester im 9. Stock eines Londoner Hochhauses. Als eines Tages ein Nachbarjunge auf offener Strasse erstochen wird und sich niemand darum kümmert, beschliesst Harri, zusammen mit seinem Freund Dean, detektivisch aktiv zu werden, denn die Polizei („Die finden doch nicht einmal ihren eigenen Arsch im Dunkeln“) wird den Täter eh nie finden Soweit die Rahmenhandlung.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, handelt hauptsächlich davon, wie Klein-Harri die Welt um ihn herum entdeckt. Und das liest sich dann zum Beispiel so: „In England gibt es für alles höllenviele verschiedene Wörter. Damit du, wenn du eins vergisst, immer noch Ersatz hast. Das ist unheimlich praktisch. Schwul, doof und bescheuert heissen alle das Gleiche.“ Oder so: „Früher hat mich beim Fussball nie einer angespielt. Ich hatte gedacht, sie hassen mich. Dann hab ich rausgefunden, dass ich das falsche Kommando benutzt hab. Statt 'Pass!' zu rufen, muss man 'Hintermann' rufen. Abgesehen davon sind die Regeln so wie da, wo ich früher gelebt hab. Vilis spielt mich immer noch nicht an, aber das ist mir egal. Wo er herkommt (Lettland), verarbeiten sie Schwarze zu Teer und belegen damit die Strassen. Das sagen alle. Ich will den Ball von ihm überhaupt nicht haben, soll er ihn doch behalten. Ich mach immer noch die Augen zu, bevor ich den Ball köpfe. Ich kann nicht anders. Ich denke immer, es würde weh tun."

Es sind Harris vielfältige und witzig dargebotene Einsichten, die dieses Buch speziell machen. „Mr Frimpong ist der Älteste in der Kirche. Auf einmal wusste ich, wieso er lauter als alle anderen singt: weil er schon am längsten auf eine Antwort von Gott wartet. Er glaubt, Gott hätte ihn vergessen.“ Oder: „Ausserhalb der Schule brauchst du die Uhrzeit nicht zu wissen. Dein Magen sagt dir, wenn Essenszeit ist. Du gehst nach Haus, wenn du genug Hunger hast, so einfach ist das.“

„Pigeon English“ liest sich über weite Strecken wie eine Sozialsatire, doch man wird den Verdacht nicht los, dass das, was hier beschrieben ist, wohl ziemlich akkurat wiedergibt, wie heutzutage das Aufwachsen in den von Immigranten und Arbeitslosen bevölkerten englischen Vorstädten aussieht. „Von meinem Balkon kannst du nur den Parkplatz und die Mülltonnen sehen. Der Fluss ist nicht zu sehen, weil die Bäume im Weg sind. Du siehst Häuser und noch mal Häuser, Reihen und Reihen davon, wie ein Nest von Schlangen. In den kleineren Wohnungen leben ältere Leute und die Nicht-ganz-Richtigen. (Nicht-ganz-Richtige nennt Jordans Mamma Leute, die sie nicht alle haben. Manche von ihnen werden so geboren, und manche von ihnen sind so, weil sie zu viel Bier getrunken haben. Manche sehen genau wie echte Menschen aus, nur dass sie nicht rechnen oder vernünftig reden könne.)“

Stephen Kelman weiss, wovon er schreibt: er ist in Luton, einem Arbeiterviertel im Norden von London aufgewachsen. Dem Londoner Guardian sagte er: „Für Leser und Autor ist der Aussenseiter (Harri Opoku) ein Instrument, das uns erlaubt, die Welt auf unvertraute Art und Weise zu sehen, und dies ist für mich, worum es der Literatur primär gehen sollte.“

Das ist Kelman mit „Pigeon English“ gut gelungen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass mir bei meinem künftigen U-Bahn-Fahrten dies durch den Kopf gehen wird: „Seid ihr mal in der U-Bahn gewesen? Da sind überall Tausende von Menschen, die alle zu schnell gehen. Sie reden nicht mit dir, sie stossen dich nur aus dem Weg.“

Stephen Kelman
Pigeon English
Berlin Verlag, Berlin 2011

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