Wednesday 17 July 2013

Slow Travel

Zuallererst: "Slow Travel" ist ein schön gemachtes Buch: es liegt gut in der Hand, weist einen leserfreundlichen Satzspiegel auf und ist in einer ansprechenden Schrift gesetzt.

Das Leitmotiv hat der 1975 geborene Dan Kieran, der für die britischen Renommier-Blätter Guardian, Telegraph, Observer und Times schreibt, Lao-tse entlehnt: "Der wahre Reisende hat keinen festgelegten Weg, noch will er an ein Ziel."

Der müssige Reisende ähnle einem Kleinkind, meint Kieran, "er schlendert hinaus in die Welt und lässt sich dabei von seiner Neugier treiben, er sucht nach Erkenntnis und folgt unterwegs jenen Impulsen, die seine Abenteuerlust wecken." Das Beispiel mit dem Kleinkind überzeugt auch deswegen, weil es einen einmal in diese, dann wieder in eine andere Richtung dirigiert und wir dadurch auf Sachen stossen, die uns selber, so wir denn nur unseren eigenen Vorstellungen folgen, entgangen wären.

Tom Hodgkinson weist in seinem Vorwort darauf hin, dass das heutige Reisen darauf angelegt sei, "jegliches Denken zu vermeiden." Und dabei sollte Reisen doch so recht eigentlich genau das Gegenteil tun: die Welt spüren, wahrnehmen, was ist, Reflexion fördern. "Welch vielfältige Anblicke bieten sich mir dar, und wie viel Denken kann ich dabei erledigen!"

Der Gedanke, dass Reisen der Reflexion förderlich ist oder jedenfalls sein kann, gefällt mir nicht zuletzt deswegen, weil ich diese Erfahrung schon oft gemacht habe. Zudem erinnert es mich an die Worte von Nietzsche: "So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern."

Dan Kierans Erlebnisse und Gedanken von unterwegs, sei es mit dem Zug, der U-Bahn oder zu Fuss, sind gut erzählt und inspirierend, und für mich auf ganz unerwartete Weise: So liess seine Zugfahrt von London nach Marbella in mir Bilder aufkommen vom eigenen langsamen Reisen in Frankreich, Spanien und Portugal. Auch stellte ich mit Genugtuung fest, dass seine Reflexionen über Sprache sich mit meinen decken: "Wir sind abhängig von den Vorstellungen, die unsere Sprache ausdrücken kann." Von Zedaka (das sowohl Wohltätigkeit als auch Gerechtigkeit bedeutet) und invatarru (das zugleich für Zukunft und Vergangenheit steht) hatte ich bislang noch nie gehört.

Ganz besonders angesprochen hat mich das Kapitel "Sei dein eigener Reiseführer"", nicht etwa, weil Kieran von Reiseführern generell nichts halten würde (er ist voll des Lobes für die originale Baedeker-Reihe), sondern weil man überall auf freundliche Menschen treffe, die einem gerne helfen würden, wenn es nötig sei. Das heisst nicht etwa, dass man ohne Bücher reisen sollte. Ganz im Gegenteil. So hat Kieran Paris in Begleitung von Frederick Forsyths "Schakal" aussergewöhnlich intensiv erlebt: "Durch Forsyths Worte verbanden sich meine Fantasie und die Wirklichkeit auf eine Weise miteinander, wie es kein herkömmlicher Reiseführer jemals möglich gemacht hätte. Dennoch war es wie eine Führung durch Paris, die ich niemals vergessen werde." Für Nachtzüge empfiehlt er übrigens John le Carré; neugierig gemacht hat er mich überdies auf Stefan Zweigs "Reisen oder Gereist-Werden".

In "Slow Travel" finden sich auch ganz viele wunderbare Zitate. Dieses hier von Paul Theroux (aus: Der alte Patagonien-Express) zum Beispiel: "Ein guter Flug wird durch Negative definiert: Man wurde nicht entführt, man ist nicht abgestürzt, man hat sich nicht übergeben, hatte keine Verspätung, fand das Essen nicht ekelerregend. Also ist man dankbar." Oder dieses hier von Henry David Thoreau (aus: Walden oder Leben in den Wäldern): "Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen anderen Trommler hört. Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, wie auch ihr Takt und wie fern sie auch selbst sei." Es spricht übrigens sehr für Kieran, dass die philosophischen Weisheiten, die er zitiert, in ihren realen Kontext setzt. So hält er zu Thoreaus eben zitierten Gedanken fest: "Solche edlen und weisen Worte verlieren etwas von ihrer Wirkung, wenn man erfährt, dass ihm in seinem ländlichen Idyll viele der täglichen Haushaltspflichten von seiner Mutter abgenommen wurden."

"Ich sehnte mich wieder danach, unterwegs zu sein, mich anders zu fühlen und einen anderen Teil meines 'Ichs' kennenzulernen." Genau dieses Gefühl hatte ich nach der Lektüre von "Slow Travel" ebenfalls.

Dan Kieran
Slow Travel
Die Kunst des Reisens
Rogner & Bernhard, Berlin 2013

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