Wednesday 8 April 2015

Kurt Klagsbrunn: Fotograf im Land der Zukunft

Bei meinem zweiten Aufenthalt in Brasilien, das war im Jahre 2008, bin ich auch auf Stefan Zweigs BRASIL um país do futuro gestossen und war davon begeistert und bin es immer noch, auch wenn ich nicht mehr weiss, was ich damals gelesen habe, doch ich erinnere mich, dass es mich darin bestärkte, dass dieses Brasilien ein ganz aussergewöhnliches Land, eben ein Land der Zukunft war. Für mich bedeutete das, dass es ungeahnte Möglichkeiten verhiess, vor allem im Vergleich zu Europa, und ganz speziell zur Schweiz, wo sich das identitätsstiftende Nationalgefühl so manifestiert: "Da chönt ja jede cho!" (Da könnte ja jeder kommen!). 

Vor einigen Monaten nun stiess ich auf Drei tränenlose Geschichten des mir bis dahin nur dem Namen nach bekannten österreichischen Autors Erich Hackl. Die erste der drei Geschichten handelt vom Schicksal der Familie Klagsbrunn zu der auch der Fotograf des vorliegenden Bandes, Kurt Klagsbrunn, gehört.
Copacabana, Rio de Janeiro, 1945

Es war denn auch Erich Hackl, der den Kontakt zu den beiden Herausgeberinnen herstellte; beigetragen hat er den Text "Klagsbrunn. Skizze einer Familiengeschichte" worin er über Kurt, den Fotografen, unter anderem festhält: "Er bewahrte den Blick des Fremden, dem auffällt, was den Einheimischen gewöhnlich erscheint."

Kurt Klagsbrunn: Fotograf im Land der Zukunft zeigt Aufnahmen aus den 1940er Jahren von Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador und Curitiba gefolgt von den Kapiteln "Unterwegs in Brasilien", "Zeitgeschichte", Leben und Arbeiten", "Lifestyle, Gesellschaft, Glamour" sowie Bildern vom März 1959, die "Brasília im Bau" zeigen (die Hauptstadt wurde im  April 1960 eingeweiht).
Palácio de Alvorada, Brasília, 1959

In seinem Beitrag "Was ich über Onkel Kurt weiss" berichtet Victor Klagsbrunn auch davon, dass sein Onkel jeweils "als beinahe unsichtbarer Fotograf mit einem scheinbar anteilnehmenden, stillen Lächeln" seiner Arbeit nachgegangen sei. Und dass er auch einmal den Präsidenten Juscelino Kubitschek, als der ihm die Zunge herausstreckte, fotografiert habe. Die Aufnahme war lange Zeit unauffindbar. "Ich suchte sie viele Jahre lang und stellte mir Juscelino Kubitschek ohne Schuhe an seinem Schreibtisch vor. So war der stets zu Scherzen aufgelegte Präsident oft fotografiert worden, denn er liebte es, die Schuhe auszuziehen. Erst jetzt, als wir die Veröffentlichung in Deutschland vorbereiteten, fand ich die Aufnahme, aber sie ist ganz anders, als ich immer gedacht hatte, und zeigt Kubitschek im damals noch im Bau befindlichen Brasília beim Einsteigen in ein Auto."

Diese schöne Anekdote illustriert wunderbar, wie stark die Bilder, die man sich aufgrund von etwas Gehörtem macht, und die Bilder, die eine Kamera aufzeichnet, voneinander abweichen können. .
Aufnahmelager für europäische Immigranten
Ilha de Flores, Rio de Janeiro, 1949

Was mich, abgesehen von meiner Sympathie für Brasilien und die Brasilianer, und abgesehen von den beeindruckenden Fotografien, ganz unbedingt für Kurt Klagsbrunn: Fotograf im Land der Zukunft einnimmt, ist der höchst aufschlussreiche Text ("Kurt Klagsbrunn    Spezialist und Pionier der Gesellschaftsfotografie") von Klaus Honnef, der nicht nur eine kenntnisreiche Hommage an den Gesellschaftsfotografen und Reporter Klagsbrunn ist, sondern auch über das Schicksal der deutschen Fotografen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs informiert.

Für Luis S. Krausz, Professor für hebräische und jüdische Literatur an der Universidade de São Paulo, stehen Klagsbrunns Bilder für "wehmutsvolle Visionen einer nicht mehr bestehenden Gesellschaft, die unter dem Schutt begraben wurde, den das Fieber des Fortschritts, die Krankheit des Wachstums und die Raserei des modernen Kapitalismus zurückgelassen haben." Es lohnt, sie sich  länger  anzuschauen. Um es mit der Lyrikerin Marta Klagsbrunn zu sagen:

"Er gefiel den Menschen
'Netter Kerl!' sagten sie über ihn
Der Blick still, neugierig, sein wesentliche Merkmal
ein halbes Lächeln, ein Versprechen auf etwas, Geheimnis
Woher diese Einstellung?
Exzentrizität? Schwer zu sagen
Besser betrachten wir seine Kunst: die Fotos

Kurt Klagsbrunn
Fotograf im Land der Zukunft
Mit Beiträgen von Erich Hackl, Victor Klagsbrunn,
Marta Klagsbrunn, Luis Krausz und Klaus Honnef
Herausgegeben von Barbara Weidle und Ursula Seeber
Weidle Verlag, Bonn 2013

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